Maurice Lever -
Marquis de Sade
Eine sehr umfangreiche Biografie über den Skandal-Autor aus dem 18./19. Jahrhundert. Sehr informativ, gründlich recherchiert (mit Briefen und Dokumenten, die in diesem Buch erstmals an die Öffentlichkeit gelangten, wobei dieses Buch 1991 erschien) und mit der notwendigen Distanz geschrieben. De Sade wird hier weder nur positiv dargestellt (wie es manche Fans machen, wenn sie solche Biografien über ihre Idole schreiben), noch wird er verteufelt. An manchen Stellen kommt zwar auch Kritik durch, die aber immer berechtigt ist; an anderen Stellen wird der Marquis auch mal gelobt. Seine Vergehen (die keine schweren Verbrechen waren) werden auch nicht verharmlost.
Interessant fand ich auch, wie greifbar der damalige Zeitgeist dargestellt wurde. Die Zeit vor, während und nach der Revolution war eine sehr turbulente Zeit, in der gerade ein Adeliger wie de Sade zu seinem zweifelhaften Ruhm gelangen konnte. Unter den Normalbürgern entstand eine immer größere Antipathie gegenüber dem Adel, der (in ihrer Wahrnehmung) nur in Saus und Braus lebte und Orgien veranstaltete - da kam der Marquis mit seinen Eskapaden genau richtig, um stellvertrend für seinen ganzen Stand verurteilt zu werden. Wobei nicht die Orgien an sich so empörend für die anderen waren, sondern der Analverkehr, den er praktizierte und der zu seiner Zeit manchmal mit dem Tod bestraft wurde. Hinzu kam, dass seine Schwiegermutter eine sehr einflussreiche Person war und an den nötigen Fäden zog, um ihn möglichst lange hinter Gitter zu lassen. Einen richtigen Gerichtsprozess bekam er nie, saß aber insgesamt über zwanzig Jahre ein.
Lustig waren auch die Auszüge aus der damaligen Boulevard-Presse, die mangels genauer Informationen einfach selbst etwas zusammendichtete. Nach seinem ersten Skandal (da hatte er eine Frau ausgepeitscht und Kerzenwachs auf den Rücken getröpfelt) gab es Meldungen, in denen es hieß, dass er ein Wundermittel entwickelt und es an der ahnungslosen Frau ausprobiert habe ... und über Nacht waren alle Wunden verheilt! Nach dem Skandal mit den Prostituierten und der spanischen Fliege gab es sogar Meldungen, dass er einen großen Ball veranstaltet habe, bei dem er allen Gästen die spanische Fliege unters Essen gemischt habe, und "dann waren alle gestorben".
In seinen Briefen, die er aus den Gefängnissen schrieb, erinnerte er mich ein wenig an Louis-Ferdinand-Celine. Diese wehleidige, beschuldigende und dabei wortgewandte Art hat etwas von einer unfreiwilligen Komik und ist irgendwie drollig.
Und es bezeichnend, dass selbst die Massenmörder aus der Revolution und Kriegstreiber Napoleon seine "Justine" so
unmoralisch und abstoßend fanden, dass sie ihn nicht freilassen wollten. Klar, so ein Buch ist natürlich viel schlimmer als das Töten von Menschen oder wenn jemand mehrere Länder in den Krieg stürzt und Tausende von Menschen sterben lässt. Das sind so die typischen Moralapostel.
Ein paar Sachen habe ich schon vorher gewusst, aber das Meiste aus diesem Buch war für mich neu und wirft ein anderes Licht auf de Sade und sein Werk. Im Grunde ist es Surrealismus, weil die Situationen und das Verhalten der Figuren völlig anders als in unserer Realität gestrickt sind. Ich mochte von seinen Büchern bisher nur "Verbrechen der Liebe" (der bei weitem nicht so hart ist), aber die skandalösen Werke könnte ich vielleicht ein zweites Mal lesen, diesmal mit einer anderen Herangehensweise.
@Jay: Das fünfte Dexter-Buch heißt im Original "Dexter is Delicious", aber bei der deutschen Übersetzung fiel ihnen offenbar kein vernünftiger Titel ein. Finde ich auch nicht so toll.