Tagebuch zum 12. Zürich Filmfestival
Am 22. September startete das 12. Zürich Filmfestival und ich habe mir seitdem gleich einige Filme angeschaut. Hier einige kurze Reviews.
Aquarius
Aquarius hat mir sehr gut gefallen. Hauptdarstellerin Sonia Braga füllt ihre Rolle voll aus, auch wenn mir die Hauptfigur nicht immer sympathisch war. Der Film ist ein Appell zu Selbstbestimmung im Alter. Die Grenze zwischen Individualismus und Egoismus ist nicht immer klar, der Film spricht diese Unschärfe ab und zu an, ohne dabei allzu stark in die Tiefe zu gehen. Es geht ganz allgemein um das Thema Selbstbestimmung. Auch Sexualität nimmt einen hohen Stellenwert ein. Dramaturgisch hat der Film vor allem im Mittelteil etwas einen Durchhänget. Er beginnt unheimlich stark mit einem Blick in die Vergangenheit, als Clara noch eine Frau im mittleren Alter war - hübsch, lebenslustig, stark und charmant. Gerade hat sie nach einem Jahr des Kampfes ihren Brustkrebs besiegt (die amputierte Brust bleibt ein Makel, den sie ihr Leben lang belastet). Der starke Anfang bringt einem dieser Frau sofort nahe, was für den Film sehr wichtig ist. Im Laufe des Films nimmt der Konflikt zwischen Clara und der Baufirma immer mehr Platz ein. Die Firma versucht sie mit fiesen Tricks aus ihrer Wohnung zu vertreiben. Die stärksten Momente hat der Film dann, wenn sich Clara zur Wehr setzt, gegen die Bauherren, auch gegen ihre Kinder, die sich um sie Sorgen. Etwas schade ist, dass gegen Ende jede Grauschattierung aufgegeben wird, und die Baufirma zum blossen Bösewicht wird, was in der ersten Filmhälfte noch nicht so eindeutig ist. Das starke Finale, in welchem Clara es den Anzugsträgern noch einmal so richtig zeigt, entschädigt dafür ein wenig.
Aquarius bietet ein tolles Schauspielerensemble, viele sympathische Figuren, tolle Bilder und eine klasse Musikuntermalung. Zudem spricht der Film auch immer wieder die Ungleichheit in der Gesellschaft an. Die Beziehung der wohlhabenden Clara zu ihrer (wenig wohlhabenden) Haushälterin symbolisiert diese Ungleichheit. Hier hätte der Film durchaus noch etwas mehr in die Tiefe gehen und die Ambivalenz seiner Hauptfigur deutlicher machen dürfen.
Trotz leichter Überlänge hat mich Aquarius überzeugt. Starke Schauspieler, schöne Bilder und klasse Soundtrack. 7.5/10 Trailer youtube
Cameraperson
Kirsten Johnson arbeitet seit 25 Jahren als Dokumentarfilmerin. «Cameraperson» stellt Johnsons filmische Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Schaffen als Kamerafrau in Form einer vielfältigen Collage dar. Kommentarlos wechseln sich kürzere und längere Sequenzen aus Bosnien, Nigeria, Darfur, Liberia und den USA ab. In Bosnien besucht sie Kriegsopfer und folgt den Spuren sexueller Gewalt, während sie in Darfur vertriebenen Frauen auf der Suche nach Feuerholz begegnet und in Nigeria eine Hebamme bei ihrer Tätigkeit in einer Geburtsklinik porträtiert. Gespräche mit ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter sowie Aufnahmen ihrer Kinder beleuchten ihre privaten Beziehungen.
Im Kern dreht sich «Cameraperson» um die Beziehung zwischen der Frau hinter der Kamera und den Menschen, die sie filmt. Welche Verantwortung trägt die Filmemacherin gegenüber den Menschen vor der Kamera? Was darf sie zeigen und wo zieht sie eine Grenze?
Es sind starke, oft überraschende, manchmal auch irritierende Szenen, die Kirsten Johnson in ihrem Film aneinanderfügt: Der Boxer, der nach dem verlorenen Kampf in der Umkleidekabine wütend um sich schlägt und schliesslich Trost in den Armen seiner Mutter sucht. Das Bild vertriebener Frauen in Darfur, die in ihren Tüchern eingehüllt mit Äxten auf den Stamm eines abgestorbenen Baumes einhacken und dabei, von trotzigem Lachen begleitet, über die arabischen Soldaten fluchen. Oder die nachdenklichen Worte einer Bosnierin, welche die Geschichten der Opfer sexueller Gewalt im Krieg zusammenträgt und von Albträumen verfolgt wird.
Als Filmende findet sich Kirsten Johnson mehrfach in Situationen wieder, in denen es ihr schwerfällt, in der Rolle der Beobachtenden zu verharren. Sei dies, wenn ein kleiner Junge draussen vor einem Bauernhof mit einer Axt spielt, eine junge Frau, die sich für ihre ungewollte Schwangerschaft schämt, vor der Kamera in Tränen ausbricht oder wenn sie Zeuge wird, wie ein Neugeborenes in einer nigerianischen Geburtsklinik unter Sauerstoffmangel mit dem Tod ringt. Die Szene mit dem Baby dauert rund drei Minuten. Die Hebamme erklärt, das Kind müsse an ein Sauerstoffgerät angeschlossen werden, doch die Klinik besitze keines. Die Hilflosigkeit der Kamerafrau greift in diesem Moment auf das Publikum über. Man möchte etwas tun, möchte eingreifen, kann aber letztlich nur wählen, ob man hinsieht oder wegschaut – eindrücklich.
9/10
Trailer youtube
Am 22. September startete das 12. Zürich Filmfestival und ich habe mir seitdem gleich einige Filme angeschaut. Hier einige kurze Reviews.
Aquarius
Regie: Kleber Mendonça Filho
Besetzung: Sonia Braga, Maeve Jinkings, Irandhir Santos, Humberto Carrão
Genre: Drama
Länge: 145 Min
Land, Jahr: Brasilien, Frankreich, 2016
Sprachen: Portugiesisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Besetzung: Sonia Braga, Maeve Jinkings, Irandhir Santos, Humberto Carrão
Genre: Drama
Länge: 145 Min
Land, Jahr: Brasilien, Frankreich, 2016
Sprachen: Portugiesisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Stolz ist sie – und schön wie eh und je – die 60-jährige Witwe Clara, die an gehobener Lage in der brasilianischen Küstenstadt Recife lebt. Ihre Wohnung im Apartmenthaus „Aquarius“ ist über die Jahrzehnte zu einem essentiellen Bestandteil ihres Lebens geworden. Hier hat sie eine Ehe gelebt, Kinder grossgezogen, den Brustkrebs und die wechselvolle Geschichte ihre Landes überstanden. Dem Haus droht allerdings der baldige Abbruch, seit Investoren sämtliche Wohnungen aufgekauft haben, um einen Neubau hinzupflastern. Clara aber weigert sich, den Ort ihrer Erinnerungen zu verlassen, selbst wenn sie sich mit ihrer eigenen Familie, kaltblütigen Investoren und dem politischen Filz ihrer Stadt anlegen muss
Aquarius hat mir sehr gut gefallen. Hauptdarstellerin Sonia Braga füllt ihre Rolle voll aus, auch wenn mir die Hauptfigur nicht immer sympathisch war. Der Film ist ein Appell zu Selbstbestimmung im Alter. Die Grenze zwischen Individualismus und Egoismus ist nicht immer klar, der Film spricht diese Unschärfe ab und zu an, ohne dabei allzu stark in die Tiefe zu gehen. Es geht ganz allgemein um das Thema Selbstbestimmung. Auch Sexualität nimmt einen hohen Stellenwert ein. Dramaturgisch hat der Film vor allem im Mittelteil etwas einen Durchhänget. Er beginnt unheimlich stark mit einem Blick in die Vergangenheit, als Clara noch eine Frau im mittleren Alter war - hübsch, lebenslustig, stark und charmant. Gerade hat sie nach einem Jahr des Kampfes ihren Brustkrebs besiegt (die amputierte Brust bleibt ein Makel, den sie ihr Leben lang belastet). Der starke Anfang bringt einem dieser Frau sofort nahe, was für den Film sehr wichtig ist. Im Laufe des Films nimmt der Konflikt zwischen Clara und der Baufirma immer mehr Platz ein. Die Firma versucht sie mit fiesen Tricks aus ihrer Wohnung zu vertreiben. Die stärksten Momente hat der Film dann, wenn sich Clara zur Wehr setzt, gegen die Bauherren, auch gegen ihre Kinder, die sich um sie Sorgen. Etwas schade ist, dass gegen Ende jede Grauschattierung aufgegeben wird, und die Baufirma zum blossen Bösewicht wird, was in der ersten Filmhälfte noch nicht so eindeutig ist. Das starke Finale, in welchem Clara es den Anzugsträgern noch einmal so richtig zeigt, entschädigt dafür ein wenig.
Aquarius bietet ein tolles Schauspielerensemble, viele sympathische Figuren, tolle Bilder und eine klasse Musikuntermalung. Zudem spricht der Film auch immer wieder die Ungleichheit in der Gesellschaft an. Die Beziehung der wohlhabenden Clara zu ihrer (wenig wohlhabenden) Haushälterin symbolisiert diese Ungleichheit. Hier hätte der Film durchaus noch etwas mehr in die Tiefe gehen und die Ambivalenz seiner Hauptfigur deutlicher machen dürfen.
Trotz leichter Überlänge hat mich Aquarius überzeugt. Starke Schauspieler, schöne Bilder und klasse Soundtrack. 7.5/10 Trailer youtube
Cameraperson
Regie: Kirsten Johnson
Genre: Dokumentarfilm
Länge: 102 Min
Land, Jahr: USA, 2016
Genre: Dokumentarfilm
Länge: 102 Min
Land, Jahr: USA, 2016
Kirsten Johnson arbeitet seit 25 Jahren als Dokumentarfilmerin. «Cameraperson» stellt Johnsons filmische Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Schaffen als Kamerafrau in Form einer vielfältigen Collage dar. Kommentarlos wechseln sich kürzere und längere Sequenzen aus Bosnien, Nigeria, Darfur, Liberia und den USA ab. In Bosnien besucht sie Kriegsopfer und folgt den Spuren sexueller Gewalt, während sie in Darfur vertriebenen Frauen auf der Suche nach Feuerholz begegnet und in Nigeria eine Hebamme bei ihrer Tätigkeit in einer Geburtsklinik porträtiert. Gespräche mit ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter sowie Aufnahmen ihrer Kinder beleuchten ihre privaten Beziehungen.
Im Kern dreht sich «Cameraperson» um die Beziehung zwischen der Frau hinter der Kamera und den Menschen, die sie filmt. Welche Verantwortung trägt die Filmemacherin gegenüber den Menschen vor der Kamera? Was darf sie zeigen und wo zieht sie eine Grenze?
Es sind starke, oft überraschende, manchmal auch irritierende Szenen, die Kirsten Johnson in ihrem Film aneinanderfügt: Der Boxer, der nach dem verlorenen Kampf in der Umkleidekabine wütend um sich schlägt und schliesslich Trost in den Armen seiner Mutter sucht. Das Bild vertriebener Frauen in Darfur, die in ihren Tüchern eingehüllt mit Äxten auf den Stamm eines abgestorbenen Baumes einhacken und dabei, von trotzigem Lachen begleitet, über die arabischen Soldaten fluchen. Oder die nachdenklichen Worte einer Bosnierin, welche die Geschichten der Opfer sexueller Gewalt im Krieg zusammenträgt und von Albträumen verfolgt wird.
Als Filmende findet sich Kirsten Johnson mehrfach in Situationen wieder, in denen es ihr schwerfällt, in der Rolle der Beobachtenden zu verharren. Sei dies, wenn ein kleiner Junge draussen vor einem Bauernhof mit einer Axt spielt, eine junge Frau, die sich für ihre ungewollte Schwangerschaft schämt, vor der Kamera in Tränen ausbricht oder wenn sie Zeuge wird, wie ein Neugeborenes in einer nigerianischen Geburtsklinik unter Sauerstoffmangel mit dem Tod ringt. Die Szene mit dem Baby dauert rund drei Minuten. Die Hebamme erklärt, das Kind müsse an ein Sauerstoffgerät angeschlossen werden, doch die Klinik besitze keines. Die Hilflosigkeit der Kamerafrau greift in diesem Moment auf das Publikum über. Man möchte etwas tun, möchte eingreifen, kann aber letztlich nur wählen, ob man hinsieht oder wegschaut – eindrücklich.
9/10
Trailer youtube