Clive77
Serial Watcher
Seine Weste war mit goldenen Fäden durchzogen, die filigrane Muster und Verzierungen auf dem roten Seidenstoff bildeten. Manche würden sie altbacken beschreiben, doch kaum jemand hätte sich getraut, es Quentin ins Gesicht zu sagen – auch wenn er zugestimmt hätte.
Er hasste die Weste. Er hätte sie sich nie ausgesucht. Doch wie alle anderen hatte er nie eine Wahl gehabt. Sollte die Weste doch nur seinen Wert widerspiegeln. Wertvoll sah sie aus und entsprechend betrachtete die Welt ihn: als einen Mann von Wert. Wie häufig hatte sich Quentin gewünscht, das Kleidungsstück in die Ecke werfen zu können und durch etwas anderes zu ersetzen. Aber er konnte nicht aus dem System aussteigen, stattdessen wollte er es verändern.
Während seine Finger nervös an den goldenen, mit prunkvollen Edelsteinen besetzten Knöpfen der Weste spielten, sprach er zu sich im Spiegel.
„Heute. Du schaffst das. Du rockst das“, mit einem lauten Geräusch klatschte er mit beiden Händen auf seine Wangen, bevor er seine Schultern straffte und sein viel zu großes, stilvoll eingerichtetes Schlafzimmer verließ.
In der Wohnküche wartete bereits sein Partner Steven mit einem reichlich gedeckten Frühstückstisch auf ihn. „Du bist ja bereits vollständig angezogen?“, irritiert schaute er Quentin an, „Was ist aus unserer Westen-freien Zone geworden?“
Mit einem Lächeln kam Quentin auf Steven zu und gab ihm einen zärtlichen Kuss. „Ich weiß Schatz. Heut muss ich leider früher los. Sobald ich Zuhause bin, verspreche ich dir, das scheußliche Teil in die Ecke zu schmeißen“. Liebevoll nahm er Stevens Gesicht in die Hände, gab ihm diesmal einen längeren, leidenschaftlicheren Kuss, atmete gierig seinen Geruch ein, bevor er ihn widerwillig losließ.
„Wärst Du bitte so lieb, mir einen Kaffee für unterwegs zu machen?“, fragte Quentin, während er bereits dabei war, seine Aktentasche und die Schlüssel zu suchen.
„Rechts auf der Kommode“, rief Steven vergnügt, während zu hören war, wie der Kaffee eingeschenkt wurde. Nach einer kurzen Pause fügte er ernster hinzu: „Bist Du dir sicher wegen heute Abend?“ Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Kurz hielt Quentin inne, überlegte, versuchte seine Gefühle zu ordnen. Ihm war schlecht vor Nervosität, aber er wusste, wofür er es tat. „Ja, ich bin mir sicher.“
Als Kind hatte seine Mutter ihm erzählt, dass wenn er sich nur sehr viel Mühe gab, die schönste aller Westen bekommen sollte. Und natürlich wollte er die schönste von allen!
Und genau dafür hatte er fortan Tag für Tag gearbeitet. Bis zum 15. Lebensjahr wurden alle Leistungen nachgehalten und gemessen - wie die aller Menschen. Jegliche Erfolge, aber auch Fehltritte wurden einbezogen. Alles wurde in einem Punktesystem festgehalten, um feststellen zu können, welche Weste den Rest seines Lebens bestimmen sollte. Die berufliche Zukunft, die Unterstützung, die ihm zustand – all das
wurde dadurch bestimmt, welche Weste er erhielt. Wie jeder Mensch hatte er genau eine bekommen, die es das restliche Leben zu pflegen galt. Denn auch die schönste Weste sah nicht mehr gut aus, wenn sie auseinanderfiel – was ausnahmslos den gesellschaftlichen Abstieg nach sich zog. Nur diejenigen ohne Westen waren noch schlimmer. Für diese gab es keinen Platz in der Gesellschaft. Sie waren nicht einordbar, passten nicht ins System. Sie konnten nichts anderes als Verbrecher sein.
Quentin hatte sich so sehr eine wunderschöne Weste gewünscht, besser und hochwertiger als die seiner Freunde oder Klassenkameraden. Dafür hatte er bis tief in die Nacht gelernt. Seine Mutter hatte ihm die besten Tennis- und Reitlehrer besorgt. Er hatte sogar das Spielen auf dem Kontrabass und den Umgang mit Farbe und Pinsel von bekannten Künstlern gelernt. In der wenigen Freizeit hatte er sich für die Umwelt eingesetzt, indem er Flugblätter zur Generierung der Aufmerksamkeit über das große Sterben der rosa Flussdelfine verteilte. Bereits mit neun konnte er einen der wenigen Plätze als Essensausteiler für Bedürftige ergattern, wo er seither alle zwei Wochen stand und Essen austeilte. Seine Freunde hatte er sorgfältig anhand ihres Nutzens ausgesucht. In all den Jahren hatte man ihn nur selten spielen gesehen. All seine Zeit hatte er für sein Ziel aufgeopfert.
Als er kurz vor seinem 15. Geburtstag eine Einladung zu einer Westenzeremonie bekam, hatte er gewusst, dass seine Weste keine Herkömmliche sein konnte. Voller Freude war er zu seiner Mutter gerannt, die dann gemeinsam mit ihm jubelnd in der Küche tanzte. Er hatte es geschafft. Damals war ihm die Brust vor Stolz übergequollen.
Heute hasste er alles, was damit zu tun hatte. Er hasste das System, die Leute die mitmachten, die es stärkten und zu dem allgemeingültigen Gesetz machten. Er hasste, dass es keinen Ausweg gab, und dass er sich gezwungen fühlte mitzumachen, aber insbesondere hasste er seine Weste.
Auf der Arbeit hatten ihm seine Mitarbeiter wie immer freundlich zugelächelt. Was hätten sie auch tun sollen? Sie hatten keine andere Wahl gehabt. Die meisten von ihnen trugen einfache Westen aus Baumwolle, einfarbig. Einer seiner höheren Angestellten hatte sogar eine aus Jeansstoff mit hochwertigen Metallknöpfen. Doch nur Quentin trug eine Weste aus Seide.
Nach Feierabend fand sich Quentin in einer schmutzigen Lagerhalle voll mit unterschiedlichen Menschen, die gemeinsam mit ihm rebellieren wollten, wieder. Julia, die etwas Ähnliches wie eine Anführerin war - auch wenn sie sich selbst nie so betiteln würde - hatte ihn hierhergebracht. Außer zu ihr konnte er keinen wirklichen Bezug zu den anderen Rebellen aufbauen, was ihn belastete. Er wollte ihnen gerne näher stehen, wünschte sich Anerkennung, stattdessen wurde er mit Argwohn betrachtet. So auch an diesem Tag. Der Anschlag, den sie seit Monaten geplant hatten, sollte endlich stattfinden. Quentin war sich klar, dass es wahrscheinlich kaum etwas ändern würde, dass es bloß ein Tropfen auf dem heißen Stein war, doch war es auch ein erster kleiner Schritt. Ein erster Schritt zum Symbol zu werden, um mehr Menschen aus dem Untergrund zu locken, die sich der Bewegung anschließen konnten. Und vielleicht würde er dann bald dieses scheußliche Rot nicht mehr sehen müssen.
Die Hoffnung verbot ihm aufzugeben, auch wenn er in den letzten Tagen vermehrt daran gedacht hatte. Für eine bessere Welt musste es weiter gehen. Um noch eine letzte motivierende Rede halten zu können, vielleicht doch noch eine Verbindung zu dem ein oder anderen aufbauen zu können, trat er vor die Gruppe. Die meisten schauten ihn aus der Distanz an, warteten, was jetzt passieren würden. Es waren viele Männer und Frauen in zerstörten Westen, wenn sie denn überhaupt welche trugen.
„Mir ist bewusst, dass ich hier auffalle. Ich verstehe auch, wieso einige mir misstrauen. Nie könnte ich verstehen, was das System Schreckliches mit Menschen wie euch tut. Was es bedeutet am Rande der Gesellschaft leben zu müssen. Doch muss ich es nicht selbst erlebt haben, um zu verstehen, dass es nicht gerecht ist. Wenn ich dieses Kleidungsstück ausziehe, bin ich doch auch nicht mehr anders als ihr. Wieso sollte es dann anders sein, wenn ich es trage? Darum scheiß drauf!“, demonstrativ zog Quentin die Weste aus, warf sie in einer der Ecken, worauf ihm ein paar wenige zujubelten, „Lasst uns die Mauern einreißen, die uns mit Westen versorgen! Lasst uns zeigen, dass wir nicht mit dem Status Quo zufrieden sind!“
Ein paar klatschten, aber insgesamt gab es nur wenige Reaktionen für Quentin, außer weiteren misstrauischen Blicken. Wahrscheinlich waren sie einfach zu nervös, um richtig zuhören zu können. Direkt nach ihm übernahm Julia die weitere Kommunikation. Im Gegensatz zu ihm schaffte sie es, einige positive Reaktionen aus dem Publikum zu erzeugen und die Stimmung hoch zu heben, bevor sie jeden dazu aufrief, sich eine Waffe zu nehmen.
Die Bauchschmerzen kehrten zu Quentin zurück, doch wieder gab ihm die Hoffnung die Kraft, sie zu ignorieren. Er nahm sich eine kleine Handfeuerwaffe, die er hoffentlich nicht nutzen musste, und hob seine Weste in der Ecke wieder auf. Am liebsten hätte er sie liegen gelassen, doch morgen, wenn alles gut ginge, musste er wieder innerhalb dieser Gesellschaft funktionieren. Solange die Rebellion ihr Ziel nicht erreicht hatte, war er an dieses Statussymbol gekettet.
Wie versprochen gab es keine Wachen an der Fabrik. Niemand schien damit zu rechnen, dass hier jemand eindringen würde. Quentin lief in der Mitte. Vor und hinter ihm sicherten ihm Rebellen, deren Namen er nicht kannte, den Weg. Beide hatten als Aufgabe ihn zu schützen, da er derjenige mit dem Sprengstoff war.
Seitdem sie über die Hälfte des Weges geschafft hatten, ohne jemanden begegnen zu müssen, lag die Feuerwaffe leichter in seiner Hand. Vorfreude stieg in ihm auf. Bald war der erste Schritt in eine bessere Welt getan. Gemeinsam müssten sie nur noch durch eine Halle rennen, dann den Gang nach links, bis sie an einer tragenden Säule ankommen würden, wo er den Sprengstoff anbringen konnte. Draußen würde er auf die anderen warten, bis Julia den Fernzünder betätigen konnte. Er müsste dann nur noch zugucken, wie eine neue Ära begann. Den weiteren Verlauf konnte er klar vor Augen sehen.
Wie im Rausch überholte er seinen Mitrebellen, riss mit Leichtigkeit die schwere Metalltür auf, hinter der bereits mehrere bewaffnete Männer und Frauen mit schwarzen, einfachen Westen auf die drei Eindringlinge warteten. Durch gezielte Schüsse, die nur knapp an Quentin vorbei gingen, fielen die beiden namenlosen Rebellen zu Boden, noch bevor sie etwas tun oder sagen konnten.
Vor Schreck erstarrt blieb Quentin in der Tür stehen. Er hatte kaum noch die Kontrolle über seine Muskeln - die Pistole in seiner rechten Hand krachte lautstark auf den Boden. Das metallische Echo reflektierte gespenstisch von den Wänden.
„Ich bin sehr enttäuscht von dir Quentin“, konnte er eine weibliche Stimme vernehmen, „Dass die anderen so einen Unsinn machen, verstehe ich ja noch, aber du...? Dir ging es doch gut.“ Hinter den Bewaffneten konnte er eine ältere ihm unbekannte Frau, mit blauen Blazer statt einer Weste, erkennen, „du warst ein aufstrebender junger Mann – zumindest soweit das möglich war. Ich wollte wirklich nicht glauben, dass diesmal jemand wie du mitmachen würde.“ Die Frau schüttelte fassungslos ihren Kopf. „Ich verstehe es nicht. Magst du es mir verraten?“ Neugierig betrachtete sie ihn, offensichtlich ernsthaft an der Antwort interessiert.
Quentin wusste nicht, was er fühlen sollte. Er ahnte, dass er hier nicht lebendig aus der Situation rauskommen würde. Aber da er nicht bereits tot war, konnte er noch hoffen, auch wenn es nur ein kleiner Funken war. Er musste die Frage stellen: „Überlebe ich, wenn meine Antwort gefällt?“
Ihr lautes Lachen zerstörte das kleine bisschen seiner Hoffnung mit einem Schlag. „Natürlich stirbst du trotzdem. Aber vielleicht erzähle ich dir, wem du es zu verdanken hast, dass wir auf dich und deine Freunde warten konnten. Und vielleicht lasse ich ja sogar Steven leben, wenn ich glaube, dass Du mir die Wahrheit sagst.“
Der Name seiner großen Liebe ließ sein Herz höher schlagen. Dass es seinen anderen Rebellenkameraden genauso ergehen könnte wie ihm, wurde zur Nebensächlichkeit.
„Bitte, bitte. Tut ihm nichts,“ flehte Quentin jämmerlich, rutschte auf die Knie, „er hat nichts mit all dem hier zu tun.“
„Ich sagte doch, ich überlege es mir, wenn ich deine Antwort bekomme, oder möchtest Du lieber direkt sterben?“
Er spürte ein Kribbeln auf seiner Brust und Stirn, bildete sich ein, den Lauf der Waffen auf seinem Körper spüren zu können. Der Atem stockte, aber für Steven würde er sich zusammenreißen. Für ihn musste er die Wahrheit sagen. Wenn auch nur eine kleine Chance bestand ihn nicht in seine Fehler hineinzuziehen, musste er die Wahrheit sagen. Er schluckte seine Angst hinunter und versuchte tapfer dem Tod entgegen zu blicken.
„Das rot macht mich blass“, bei seiner Antwort deutete er auf seine Weste.
Wieder lachte die alte Dame belustigt auf, schaute ihm dann tief in die Augen, bevor sie nickte: „Die Westen haben euch verraten.“
Danach ließ sie Quentin keine weitere Zeit das Gesagte zu verarbeiten, sondern gab das Signal zu schießen.
Er hasste die Weste. Er hätte sie sich nie ausgesucht. Doch wie alle anderen hatte er nie eine Wahl gehabt. Sollte die Weste doch nur seinen Wert widerspiegeln. Wertvoll sah sie aus und entsprechend betrachtete die Welt ihn: als einen Mann von Wert. Wie häufig hatte sich Quentin gewünscht, das Kleidungsstück in die Ecke werfen zu können und durch etwas anderes zu ersetzen. Aber er konnte nicht aus dem System aussteigen, stattdessen wollte er es verändern.
Während seine Finger nervös an den goldenen, mit prunkvollen Edelsteinen besetzten Knöpfen der Weste spielten, sprach er zu sich im Spiegel.
„Heute. Du schaffst das. Du rockst das“, mit einem lauten Geräusch klatschte er mit beiden Händen auf seine Wangen, bevor er seine Schultern straffte und sein viel zu großes, stilvoll eingerichtetes Schlafzimmer verließ.
In der Wohnküche wartete bereits sein Partner Steven mit einem reichlich gedeckten Frühstückstisch auf ihn. „Du bist ja bereits vollständig angezogen?“, irritiert schaute er Quentin an, „Was ist aus unserer Westen-freien Zone geworden?“
Mit einem Lächeln kam Quentin auf Steven zu und gab ihm einen zärtlichen Kuss. „Ich weiß Schatz. Heut muss ich leider früher los. Sobald ich Zuhause bin, verspreche ich dir, das scheußliche Teil in die Ecke zu schmeißen“. Liebevoll nahm er Stevens Gesicht in die Hände, gab ihm diesmal einen längeren, leidenschaftlicheren Kuss, atmete gierig seinen Geruch ein, bevor er ihn widerwillig losließ.
„Wärst Du bitte so lieb, mir einen Kaffee für unterwegs zu machen?“, fragte Quentin, während er bereits dabei war, seine Aktentasche und die Schlüssel zu suchen.
„Rechts auf der Kommode“, rief Steven vergnügt, während zu hören war, wie der Kaffee eingeschenkt wurde. Nach einer kurzen Pause fügte er ernster hinzu: „Bist Du dir sicher wegen heute Abend?“ Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Kurz hielt Quentin inne, überlegte, versuchte seine Gefühle zu ordnen. Ihm war schlecht vor Nervosität, aber er wusste, wofür er es tat. „Ja, ich bin mir sicher.“
Als Kind hatte seine Mutter ihm erzählt, dass wenn er sich nur sehr viel Mühe gab, die schönste aller Westen bekommen sollte. Und natürlich wollte er die schönste von allen!
Und genau dafür hatte er fortan Tag für Tag gearbeitet. Bis zum 15. Lebensjahr wurden alle Leistungen nachgehalten und gemessen - wie die aller Menschen. Jegliche Erfolge, aber auch Fehltritte wurden einbezogen. Alles wurde in einem Punktesystem festgehalten, um feststellen zu können, welche Weste den Rest seines Lebens bestimmen sollte. Die berufliche Zukunft, die Unterstützung, die ihm zustand – all das
wurde dadurch bestimmt, welche Weste er erhielt. Wie jeder Mensch hatte er genau eine bekommen, die es das restliche Leben zu pflegen galt. Denn auch die schönste Weste sah nicht mehr gut aus, wenn sie auseinanderfiel – was ausnahmslos den gesellschaftlichen Abstieg nach sich zog. Nur diejenigen ohne Westen waren noch schlimmer. Für diese gab es keinen Platz in der Gesellschaft. Sie waren nicht einordbar, passten nicht ins System. Sie konnten nichts anderes als Verbrecher sein.
Quentin hatte sich so sehr eine wunderschöne Weste gewünscht, besser und hochwertiger als die seiner Freunde oder Klassenkameraden. Dafür hatte er bis tief in die Nacht gelernt. Seine Mutter hatte ihm die besten Tennis- und Reitlehrer besorgt. Er hatte sogar das Spielen auf dem Kontrabass und den Umgang mit Farbe und Pinsel von bekannten Künstlern gelernt. In der wenigen Freizeit hatte er sich für die Umwelt eingesetzt, indem er Flugblätter zur Generierung der Aufmerksamkeit über das große Sterben der rosa Flussdelfine verteilte. Bereits mit neun konnte er einen der wenigen Plätze als Essensausteiler für Bedürftige ergattern, wo er seither alle zwei Wochen stand und Essen austeilte. Seine Freunde hatte er sorgfältig anhand ihres Nutzens ausgesucht. In all den Jahren hatte man ihn nur selten spielen gesehen. All seine Zeit hatte er für sein Ziel aufgeopfert.
Als er kurz vor seinem 15. Geburtstag eine Einladung zu einer Westenzeremonie bekam, hatte er gewusst, dass seine Weste keine Herkömmliche sein konnte. Voller Freude war er zu seiner Mutter gerannt, die dann gemeinsam mit ihm jubelnd in der Küche tanzte. Er hatte es geschafft. Damals war ihm die Brust vor Stolz übergequollen.
Heute hasste er alles, was damit zu tun hatte. Er hasste das System, die Leute die mitmachten, die es stärkten und zu dem allgemeingültigen Gesetz machten. Er hasste, dass es keinen Ausweg gab, und dass er sich gezwungen fühlte mitzumachen, aber insbesondere hasste er seine Weste.
Auf der Arbeit hatten ihm seine Mitarbeiter wie immer freundlich zugelächelt. Was hätten sie auch tun sollen? Sie hatten keine andere Wahl gehabt. Die meisten von ihnen trugen einfache Westen aus Baumwolle, einfarbig. Einer seiner höheren Angestellten hatte sogar eine aus Jeansstoff mit hochwertigen Metallknöpfen. Doch nur Quentin trug eine Weste aus Seide.
Nach Feierabend fand sich Quentin in einer schmutzigen Lagerhalle voll mit unterschiedlichen Menschen, die gemeinsam mit ihm rebellieren wollten, wieder. Julia, die etwas Ähnliches wie eine Anführerin war - auch wenn sie sich selbst nie so betiteln würde - hatte ihn hierhergebracht. Außer zu ihr konnte er keinen wirklichen Bezug zu den anderen Rebellen aufbauen, was ihn belastete. Er wollte ihnen gerne näher stehen, wünschte sich Anerkennung, stattdessen wurde er mit Argwohn betrachtet. So auch an diesem Tag. Der Anschlag, den sie seit Monaten geplant hatten, sollte endlich stattfinden. Quentin war sich klar, dass es wahrscheinlich kaum etwas ändern würde, dass es bloß ein Tropfen auf dem heißen Stein war, doch war es auch ein erster kleiner Schritt. Ein erster Schritt zum Symbol zu werden, um mehr Menschen aus dem Untergrund zu locken, die sich der Bewegung anschließen konnten. Und vielleicht würde er dann bald dieses scheußliche Rot nicht mehr sehen müssen.
Die Hoffnung verbot ihm aufzugeben, auch wenn er in den letzten Tagen vermehrt daran gedacht hatte. Für eine bessere Welt musste es weiter gehen. Um noch eine letzte motivierende Rede halten zu können, vielleicht doch noch eine Verbindung zu dem ein oder anderen aufbauen zu können, trat er vor die Gruppe. Die meisten schauten ihn aus der Distanz an, warteten, was jetzt passieren würden. Es waren viele Männer und Frauen in zerstörten Westen, wenn sie denn überhaupt welche trugen.
„Mir ist bewusst, dass ich hier auffalle. Ich verstehe auch, wieso einige mir misstrauen. Nie könnte ich verstehen, was das System Schreckliches mit Menschen wie euch tut. Was es bedeutet am Rande der Gesellschaft leben zu müssen. Doch muss ich es nicht selbst erlebt haben, um zu verstehen, dass es nicht gerecht ist. Wenn ich dieses Kleidungsstück ausziehe, bin ich doch auch nicht mehr anders als ihr. Wieso sollte es dann anders sein, wenn ich es trage? Darum scheiß drauf!“, demonstrativ zog Quentin die Weste aus, warf sie in einer der Ecken, worauf ihm ein paar wenige zujubelten, „Lasst uns die Mauern einreißen, die uns mit Westen versorgen! Lasst uns zeigen, dass wir nicht mit dem Status Quo zufrieden sind!“
Ein paar klatschten, aber insgesamt gab es nur wenige Reaktionen für Quentin, außer weiteren misstrauischen Blicken. Wahrscheinlich waren sie einfach zu nervös, um richtig zuhören zu können. Direkt nach ihm übernahm Julia die weitere Kommunikation. Im Gegensatz zu ihm schaffte sie es, einige positive Reaktionen aus dem Publikum zu erzeugen und die Stimmung hoch zu heben, bevor sie jeden dazu aufrief, sich eine Waffe zu nehmen.
Die Bauchschmerzen kehrten zu Quentin zurück, doch wieder gab ihm die Hoffnung die Kraft, sie zu ignorieren. Er nahm sich eine kleine Handfeuerwaffe, die er hoffentlich nicht nutzen musste, und hob seine Weste in der Ecke wieder auf. Am liebsten hätte er sie liegen gelassen, doch morgen, wenn alles gut ginge, musste er wieder innerhalb dieser Gesellschaft funktionieren. Solange die Rebellion ihr Ziel nicht erreicht hatte, war er an dieses Statussymbol gekettet.
Wie versprochen gab es keine Wachen an der Fabrik. Niemand schien damit zu rechnen, dass hier jemand eindringen würde. Quentin lief in der Mitte. Vor und hinter ihm sicherten ihm Rebellen, deren Namen er nicht kannte, den Weg. Beide hatten als Aufgabe ihn zu schützen, da er derjenige mit dem Sprengstoff war.
Seitdem sie über die Hälfte des Weges geschafft hatten, ohne jemanden begegnen zu müssen, lag die Feuerwaffe leichter in seiner Hand. Vorfreude stieg in ihm auf. Bald war der erste Schritt in eine bessere Welt getan. Gemeinsam müssten sie nur noch durch eine Halle rennen, dann den Gang nach links, bis sie an einer tragenden Säule ankommen würden, wo er den Sprengstoff anbringen konnte. Draußen würde er auf die anderen warten, bis Julia den Fernzünder betätigen konnte. Er müsste dann nur noch zugucken, wie eine neue Ära begann. Den weiteren Verlauf konnte er klar vor Augen sehen.
Wie im Rausch überholte er seinen Mitrebellen, riss mit Leichtigkeit die schwere Metalltür auf, hinter der bereits mehrere bewaffnete Männer und Frauen mit schwarzen, einfachen Westen auf die drei Eindringlinge warteten. Durch gezielte Schüsse, die nur knapp an Quentin vorbei gingen, fielen die beiden namenlosen Rebellen zu Boden, noch bevor sie etwas tun oder sagen konnten.
Vor Schreck erstarrt blieb Quentin in der Tür stehen. Er hatte kaum noch die Kontrolle über seine Muskeln - die Pistole in seiner rechten Hand krachte lautstark auf den Boden. Das metallische Echo reflektierte gespenstisch von den Wänden.
„Ich bin sehr enttäuscht von dir Quentin“, konnte er eine weibliche Stimme vernehmen, „Dass die anderen so einen Unsinn machen, verstehe ich ja noch, aber du...? Dir ging es doch gut.“ Hinter den Bewaffneten konnte er eine ältere ihm unbekannte Frau, mit blauen Blazer statt einer Weste, erkennen, „du warst ein aufstrebender junger Mann – zumindest soweit das möglich war. Ich wollte wirklich nicht glauben, dass diesmal jemand wie du mitmachen würde.“ Die Frau schüttelte fassungslos ihren Kopf. „Ich verstehe es nicht. Magst du es mir verraten?“ Neugierig betrachtete sie ihn, offensichtlich ernsthaft an der Antwort interessiert.
Quentin wusste nicht, was er fühlen sollte. Er ahnte, dass er hier nicht lebendig aus der Situation rauskommen würde. Aber da er nicht bereits tot war, konnte er noch hoffen, auch wenn es nur ein kleiner Funken war. Er musste die Frage stellen: „Überlebe ich, wenn meine Antwort gefällt?“
Ihr lautes Lachen zerstörte das kleine bisschen seiner Hoffnung mit einem Schlag. „Natürlich stirbst du trotzdem. Aber vielleicht erzähle ich dir, wem du es zu verdanken hast, dass wir auf dich und deine Freunde warten konnten. Und vielleicht lasse ich ja sogar Steven leben, wenn ich glaube, dass Du mir die Wahrheit sagst.“
Der Name seiner großen Liebe ließ sein Herz höher schlagen. Dass es seinen anderen Rebellenkameraden genauso ergehen könnte wie ihm, wurde zur Nebensächlichkeit.
„Bitte, bitte. Tut ihm nichts,“ flehte Quentin jämmerlich, rutschte auf die Knie, „er hat nichts mit all dem hier zu tun.“
„Ich sagte doch, ich überlege es mir, wenn ich deine Antwort bekomme, oder möchtest Du lieber direkt sterben?“
Er spürte ein Kribbeln auf seiner Brust und Stirn, bildete sich ein, den Lauf der Waffen auf seinem Körper spüren zu können. Der Atem stockte, aber für Steven würde er sich zusammenreißen. Für ihn musste er die Wahrheit sagen. Wenn auch nur eine kleine Chance bestand ihn nicht in seine Fehler hineinzuziehen, musste er die Wahrheit sagen. Er schluckte seine Angst hinunter und versuchte tapfer dem Tod entgegen zu blicken.
„Das rot macht mich blass“, bei seiner Antwort deutete er auf seine Weste.
Wieder lachte die alte Dame belustigt auf, schaute ihm dann tief in die Augen, bevor sie nickte: „Die Westen haben euch verraten.“
Danach ließ sie Quentin keine weitere Zeit das Gesagte zu verarbeiten, sondern gab das Signal zu schießen.
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